1 - 6 Jahre, Beziehung, Bindung

Wie baue ich Bindung zu kleinen Kindern auf und welche Rahmenbedingungen brauche ich dafür?

5. Mai 2017

Bindung, Bindung, Bindung. Überall hört man von der Wichtigkeit der Bindung. Warum ist sie denn so unglaublich wichtig für Kinder und wie schaffe ich es Bindung zu den Kindern aufzubauen? Heute schaue ich mir vor allem die Bindung zu ganz kleinen Kindern an.

Bindung ist ein Grundbedürfnis

Definition: Eine enge und überdauernde emotionale Beziehung von Kindern zu ihren Eltern (und anderen Bezugspersonen). Bowlby

John Bowlby (ja, es klingelt bei euch, denn ihr habt mindestens in eurer Ausbildung schon einmal von ihm gehört) beschäftigte sich sehr mit diesem Thema und schaute sich verschiedene Experimente mit Mensch und Tier an. So u.a. das Experiment von René Spitz, der Kindern in Waisenhäusern alles (scheinbar) Lebensnotwendige gab. Er verwehrte ihnen allerdings den Kontakt zu Menschen und die Kinder starben reihenweise. So grausam aber wahr. Eine Schlussfolgerung lautete also, um zu überleben, brauchen Säuglinge Bindung.

„Auf den ersten Blick scheint Bindung ganz einfach zu funktionieren: versuche zu deinem Versorger eine möglichst feste Bindung herzustellen, scheint die Natur allen Neugeborenen einzuflüstern. Denn sonst verhungerst du oder wirst von einem Raubtier gefressen. Jedes Neugeborene schaut sich also zunächst einmal in der großen, kalten Welt um: Wo ist denn hier mein schützender, Wärme und Nahrung spendender Versorger?“¹

Zuallererst binden sich Babys an die Menschen, die am Meisten für sie verfügbar sind. Übrigens unabhängig davon, wie gut oder schlecht diese Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen bzw. die Qualität der Zuwendung ist. Bei dieser Bezugsperson sucht das Kind körperliche Nähe, Schutz und Geborgenheit. Dies geschieht vor allem in Momenten, die es selbst schwer bewältigen kann: bei Angst, Trauer, Verunsicherung, Schmerz, … Die Bindungsperson hilft bei der Regulation und so beruhigt sich ein Kind wieder schnell: es ist also „ein Ort“ des Vertrauens, des Verlässlichkeit, des Schutzes, des Trostes, der Sicherheit, eine Tankstelle für neue Kraft. Bindungstankstellen sind (in der Regel) zuallererst die Eltern.

Offenheit für mehrere Bindungspersonen

Ein Kind kann aber enge Beziehungen zu mehreren Bindungspersonen gleichzeitig bilden. Dabei steht zwar immer die Hauptbezugsperson (meist Mama, Papa) an erster Stelle, aber Kinder legen sich eine Art innere Hierarchie der verschiedenen Bezugspersonen an.

Kinder können also auch schon zu einem frühen Zeitpunkt eine enge Bindung, neben der Hauptbezugsperson, zu anderen Menschen aufbauen.

In anderen Völkern sind Babys nicht nur auf ihre Mutter bezogen, sondern werden ganz selbstverständlich von anderen mitversorgt – von Vätern, Geschwistern, Großeltern oder anderen Clanmitgliedern. Das Bindungsprogramm des Babys ist nicht nur auf eine einzige Bindungsperson zugeschnitten, es ist für den menschlichen Nachwuchs sogar wünschenswert, dass sich auch andere Helfer*innen an der Pflege beteiligen.¹

Ab dem 7. Lebensmonat ist das Baby allerdings nicht mehr ganz so offen, wie zu Beginn (wo es evolutionsbiologisch gesehen ums überleben geht) und trifft eine engere Auswahl und will nun hauptsächlich von ersten Bindungspersonen betreut werden. Dies können aber eben immer noch mehrere Personen sein.

Da kommen wir ins Spiel

Da Kinder also offen für diese enge Bindung zu anderen Menschen sind, können sie in eine Krippe oder zu einer Tagesmutter gehen. Und somit wirst du zu dieser engen Bindungsperson für sie.

Ist das nicht wahnsinnig toll, dass Kinder das schon so früh können und offen dafür sind? Und wir dürfen diesen tollen und verantwortungsvollen Job übernehmen. 🙂

Wie bauen wir Beziehung auf?

Ob wir es auf die Bindungsliste des Kindes schaffen, entscheiden folgende Faktoren:

♥ Erstens: du verbringst regelmäßig und verlässlich Zeit mit dem Kind.

Aber das reicht nicht allein (sonst hätte unser Hausmeister die gleiche Bindung zu einem Kleinkind wie die Bezugserzieherin. 😉 ).

♥ Eine sichere und stabile Beziehung entsteht, wenn du dem Kind emotional offen gegenübertrittst und ihm feinfühlig und authentisch begegnest.

„Feinfühligkeit meint, als Bezugsperson die Signale des Kindes wahrzunehmen, sie im Sinne des Kindes zu interpretieren und das Bedürfnis des Kindes dann angemessen zu befriedigen.“²

♥ Außerdem eine dialogische Sprache (klingt so selbstverständlich, ist es aber oft nicht).

♥ Die Gefühle des Kindes, auch schon bei ganz kleinen Kindern, sehen und verstehen. Die Grundgefühle (Primäraffekte) sind allen Menschen in allen Kulturen und Säuglingen angeboren: Interesse, Überraschung, Ekel, Freude, Ärger, Traurigkeit und Furcht. Sie dienen als Kommunikationsmöglichkeit zwischen Kind und Bindungsperson.

♥ Aufnehmen von Blickkontakt (auch das klingt selbstverständlich, auch das ist es oft nicht).

♥ Regelmäßiger und angemessener Körperkontakt.

Geschieht die Alles über einen längeren Zeitraum, wird die Bezugsperson als vorhersehbar und verfügbar erlebt. Dann ist das Kind in der Lage, die Umwelt zu erkunden und zu explorieren: ein Kind, das sich sicher und geborgen fühlt (fest gebunden ist), kann offen und interessiert erforschen, weil es weiß, bei „Gefahr“ kann ich jederzeit zu meinem sicheren „Ort“ zurück.

Welche Bedingungen müssen als Rahmen gegeben sein?

Um diese Bindungsperson im außerfamiliären Kontext zu werden und sicher zu stellen, dass das Kind wirklich gute Erfahrungen machen und sich gesund entwicklen kann, brauchen wir folgendes:

♥ Eine gelungene Eingewöhnung: sie muss sorgfältig vorbereitet und individuell für jedes Kind gestaltet werden. Es darf kein Zeitdruck geben (nach dem Motto: bis da und dahin sollte die Eingewöhnung fertig sein, weil die Mutter dann wieder arbeiten muss).

Das bedeutet: Der Übergang muss auf auf den jeweiligen Entwicklungsstand und die Wesensart des Kindes angepasst sein. So wird jede Eingewöhnung zu einer individuellen Angelegenheit. Dabei sollen die vier Phasen der Bindungsentwicklung immer berücksichtigt werden.

Da man von dem Kleinkind noch keine Abschiedsbewusstheit erwarten kann, müssen wir bei der Verabschiedung sehr sensibel vorgehen.

Entwicklungskrisen, wie z.B. die Wiederannäherungskrise (Fremdelphase) zwischen 18 und 24 Monaten, heftiger Trotz (Autonomiephase), eine Regression durch die Geburt eines Geschwisters oder andere familiäre Ereignisse müssen auf jeden Fall beachtet werden.

Unser Job ist es, Kinder in der Erfahrung der Trennung und vor allem des Getrenntseins (von ihren primären Bezugspersonen) zu unterstützen und zu begleiten.

♥ Einen niedrigen Betreuungsschlüssel: Besser 2, maximal 3 Säuglinge und Kleinkinder dürfen einer erwachsene Betreuungsperson anvertraut werden. (In Berlin sind es auf dem Papier 7 Kinder unter drei Jahren pro Erzieher*in, in der Praxis sieht es noch krasser aus).

♥ Ein Bezugsbetreuer*innensystem: Für Kinder unter vier Jahren sind die vertrauten Bindungspersonen nicht einfach mal so eben austauschbar. Ein festes System, wer welchem Kind „zugeordnet“ ist und wer das Kind eng von Anfang an (!) begleitet, ist unabdingbar. Schichtwechsel und Urlaubszeiten müssen durch eine zweite Bezugserzieherin, welche im Tandem zum Kind ein Vertrauensverhältnis aufbaut, abgefedert werden. Abschiede (z.B. durch Übertritte, Kündigung) brauchen eine ganz sorgfältige Planung und Begleitung. ³

♥ Ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Eltern und Erzieher*in: es muss unbedingt eine enge Zusammenarbeit geben mit viel Vertrauen auf beiden Seiten. Wichtig sind regelmäßige Gesprächen über die Entwicklung des Kindes (sie sind öfter notwendig als bei Kindern über vier Jahren).

Falls mögliche Spannungen, gegenseitiges Misstrauen, Ängste und eine Rivalität um das Kind entstehen, müssen diese unbedingt aufgegriffen und angesprochen werden. Hier ist Supervision notwendig und sehr hilfreich. Familien und Krippen sollten zum Wohle des Kindes ganz eng verbunden sein.

♥ Eine offene Haltung und Gastfreundschaft den Eltern gegenüber: Es soll ein Ort zum Verweilen für Eltern zur Verfügung stehen. Ich weiß selbst, dass ich es manchmal etwas nervig fand, wenn Eltern regelrecht sesshaft wurden, wenn sie ihre Kinder abgeholt haben, aber für kleine Kinder ist es umso wichtiger. Wenn wir von unserem „perfekten“ Betreuungsschlüssel ausgehen, geht es auch nicht um 25 Eltern, mit denen man täglich Austausch halten muss.

♥ Eine gute Gestaltung von Schlüsselsituationen: Die Übergabe des Kindes zwischen Eltern und Erzieher*in am Morgen und Nachmittag/Abend, der Umgang mit Konflikten und Individualität, die Essenszeiten, das freie Spiel und die Gestaltung der ersten und letzten Stunde in der Krippe, in diesen Momenten sind die Kinder besonders auf unsere Feinfühligkeit und flexibles wie auch ritualisiertes Agieren angewiesen. ³

Durch diese gelingende Zusammenarbeit können Kinder ein lückenloses und tragfähiges Beziehungsnetz erfahren.

Es gibt nur einen Haken an der Sachen

„Bindung macht uns einander vertraut und einzigartig. Sie macht uns bedeutsam und verantwortlich für einander.“ Theresia Herbst

Es ist ein sehr verantwortungsvolles Gut, kleine Kinder zu betreuen. Aber es gibt leider ein großes, dickes, fettes ABER. Ich habe noch keine Einrichtung erlebt, die so mit Babys und Kleinkindern arbeitet.

Tagesmütter haben da andere Möglichkeiten, in Kitas und Krippen ist es einfach aus finanziellen und strukturellen Gründen nicht möglich! Meine Gedanken an Frau Scheeres kennt ihr bestimmt. Ich träume also von diesem Ort und wünsche allen Kindern dieser Welt, dass sie diese Art der Bindung in ihren außerfamiliären Kontakten erfahren dürfen!!

Das war heute ein kleiner Auftakt. Ich widme mich demnächst auch noch ganz grundsätzlich der Fremdbetreuungsfrage an sich und der Frage, warum Beziehung und Bindung für älter Kinder auch noch so wichtig ist.

Wenn du an so einem wunderbaren Ort arbeitest, sag mir (bitte unbedingt) Bescheid, ich plane immer noch meinen Roadtrip zu Orten, die kinderwärts unterwegs sind.


¹ Kinder verstehen von Herbert Renz-Polster

² Was unsere Kinder brauchen von Katia Saalfrank

³ Der Abschnitt der Rahmenbedingungen orientiert sich an einem sehr tollen, hilfreichen Paper von Theresia Herbst, was hier findet. (Qualitativ hochwertige Betreuung für Kinder unter vier Jahren – Empfehlungen für eine bindungsbasierte Erziehung im Rahmen der Montessori-Pädagogik)

Allgemein kann ich euch die Seite von ihr sehr ans Herz legen.

Weitere Literatur: Ratgeber – Sichere Kinder brauchen starke Wurzeln, Thomas Köhler-Saretzki und Bücher und Texte von John Bowlby wie auch Mary Ainsworth

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2 Comments

  • Reply Alice Abdii 10. Mai 2017 at 23:58

    So wahre worte. Ich liebe deine Beiträge.
    Ich hoffe, dass ich genau diesen Ort mit meiner Tochter erschaffen kann. Auch wir haben eine Vision von einer wunderbaren Welt, in der die Kinder gewertschätzt werden, in der sie gehört werden, sich entwickeln und sich wohl fühlen. Ein kleines zweites Zuhause, der Kinderkiez.
    Wir warten sehnsüchtig auf unsere Eröffnung und den Beginn unserer Eingewöhnungen. Auf die Frage der Eltern, wie lange die Eingewöhnungen dauern, antworten wir immer, dass die Kinder die Dauer bestimmen. Erst wenn sie zu uns eine Bindung aufgebaut haben (und wir tun alles erdenkliche dafür), dann kann man langsam die Eingewöhnung abschließen. Wenn du Lust hast, schaue mal auf unserer Internetseite http://www.kinderkiezberlin.de
    Solltest Du mal wieder in Berlin sein, kannst du gerne vorbeikommen. Vielleicht nicht gerade während der Eingewöhnungen, denn diese Zeit gehört den Kindern.

    • Reply Anna 22. Mai 2017 at 21:11

      Liebe Alice,

      oh das klingt ganz wunderbar und kinderwärts ;). Wie schön zu hören! Danke für dein liebes Feedback und ich komme bestimmt mal auf die Einladung zurück!
      Liebe Grüße
      Anna

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