Im Gespräch mit...

Mädchen oder Junge – spielt das eine Rolle?

19. Dezember 2017

Im Herbst spazierte ich in meine Bibliothek und entdeckte im Foyer eine Ausstellung zum Thema „Mädchen oder Junge. Spielt das eine Rolle?“ Eine interaktive Ausstellung für Kinder und Erwachsene. Es ging um Geschlechterstereotypen, um Gefühle, Aussehen, Berufe und Hausarbeit und um Rollen von (berühmten) Personen. Ich war direkt Feuer und Flamme.

Wir haben oft eine klare Vorstellung darüber, wie Mädchen und Jungen zu sein haben. Ein Thema, welches immer wieder bei mir aufploppt. Ich habe dazu einige unsortierte Gedanken und Gefühle und merke immer wieder, in Gesprächen polarisiert dieses Thema.

Stehen uns und unseren Kindern heute alle Möglichkeiten offen? Warum spielen Mädchen doch oft mit Puppen und Jungs mit Autos?  Was ist Sozialisation und was Biologie? Und was können wir ganz konkret in Kita und Schule machen? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, habe ich einen Termin mit Anja Derungs gemacht, Leiterin der Fachstelle für Gleichstellung in Zürich.

Kinderwärts: Mädchen oder Junge. Spielt es denn eine Rolle?

Anja Derungs: Meine Antwort wäre Ja und Nein. Es sollte eigentlich keine Rolle spielen in der Erziehung, in der Schule und trotzdem spielt es eben eine Rolle, weil wir immer eine Geschlechterzuteilung machen, also Kinder (unbewusst) als Mädchen oder Jungs behandeln und klassieren.

An dieser Stelle möchte ich gerne das Bewusstsein wecken: wo und wann machen wir dies im Alltag. Wir thematisieren beispielsweise bei Mädchen das Äußere, der hübsche Pullover, das Kleid etc. Jungs bekommen Taschengeld fürs Rasenmähen, Mädchen fürs Abwaschen zu Hause aber nicht, weil wir es als selbstverständlich ansehen. Da werden schon ganz früh und bei alltäglichen Tätigkeiten Wertungen von uns Erwachsenen vorgenommen.

Also, nein, es darf keine Rolle spielen. Weil Kinder nach ihren Interessen befähigt werden sollen und ihnen Mut gemacht werden soll, anders zu sein bzw. so zu sein wie sie sind und sein möchten, unabhängig von ihrem Geschlecht.

Wir sind Vorbilder. Kinder bringen ja diese Erfahrung nicht mit auf die Welt:  „Ah, typisch Mann, typisch Frau“, das lernen sie durch die Umwelt.

Genau, Kinder bringen diese Rollenbilder von zu Hause mit, oder erfahren sie im Kindergarten, in der Schule oder in Büchern. Und wir müssen uns bewusst sein, so wie wir handeln, denken, reden und agieren prägen wir die Kinder. Das ist das Erste, was Kinder aufnehmen und kennen lernen. Ihr Erfahrungswissen lernen sie von uns.

Nehmen wir mal an, ein Mädchen wächst in einer Familie, in einem Haushalt auf, in dem es keine typischen Rollenklischees gibt und im Umfeld gäbe es kein Baby. Würde dieses Mädchen trotzdem auch mit Puppen spielen, sie in den Schlaf wiegen etc.? Also die Frage nach Sozialisation oder Biologie? Diese Frage stellt sich in Diskussionen immer wieder, was ist angeboren?

Also, bis jetzt hat man noch kein „Puppen-Gen“ oder „Lego-Gen“ gefunden. Es gibt nur wenige biologische Unterschiede außer den körperlichen Merkmalen, dies zeigen Meta-Studien. Es läuft sehr viel über die Sozialisation.Ein Kind wird vom Augenblick der Geburt (und teilweise auch schon früher) als Mädchen oder Junge wahrgenommen und behandelt. Das sind subtile Mechanismen, die häufig unbewusst ablaufen, ohne dass wir es beabsichtigen. Interessant wäre zu schauen, welche Spielsachen hat dieses beschriebene Mädchen zu Hause und wie sieht ihr Kinderzimmer aus? Ist es ein Mädchenzimmer, wo es nur eine Puppenecke gibt – oder auch Bausteine und Autos?

Es gibt eine Studie des NFP 60 «Gleichstellung der Geschlechter»  die gezeigt hat, wenn man die Spielsachen miteinander vermischt und sie nicht trennt und somit auch nicht von vornherein einem Geschlecht zuordnet, spielen Kinder mit allem zusammen. So geben auch nicht wir Eltern vor, mit was Jungs und mit was Mädchen zu spielen haben. Denn wenn die Bau- und Puppenecke miteinander zu tun haben, kann die Puppe beispielsweise auch von den Kindern mit der Schubkarre hin- und her transportiert werden.

Für mich als Mutter wurde die „Zuteilung“ in Junge oder Mädchen erst ab dem Kindergarten ein Thema. Plötzlich meinte meine Tochter, sie brauche nun auch rosa Schuhe, weil die Kinder sie sonst auslachen würden. Farben waren ihr vorher egal.

Es liegt also an uns, etwas zu (ver)ändern.

In meinem Umfeld erlebe ich schon eine Bewegung und ein Bewusstsein für diese Thematik. Dennoch gibt es die Tendenz: Wenn nun Mädchen vermeintlich typische Jungen-Freizeitaktivitäten wie Fußball spielen, Karate oder Boxen ausüben, ist das total anerkannt, man findet dies fortschrittlich und betitelt diese Mädchen als stark. Klar sollen Mädchen auch Hosen und blaue Sachen anziehen. Wenn nun aber Jungen Ballett tanzen oder rosa Kleider anziehen, funktioniert das andersherum nicht. Wie erklären Sie das?

Ich glaube das hat einfach mit dem patriarchalen Machtverhältnis zu tun aus dem wir kommen. Und mit der Frauenbewegung und der Emanzipation der Frauen. Frauen haben sich vielmehr mit den ihnen zugeschriebenen Rollen auseinandergesetzt und sich dagegen gewehrt. Auch wenn ich derzeit in dieser Hinsicht wieder ein Backlash beobachte. Bei den Männern kommt dieser Prozess erst langsam in Gang – das Rollenkorsett ist für sie noch viel enger…

Und es ist ja im Grunde eher kontraproduktiv, dass wir das Mädchen dann loben und sagen, toll, dass du Fußball spielst. Als wäre das etwas total Besonderes und „Abartiges“.

Kinder sollen vielfältige Angebote bekommen und diese  wertfrei ausüben dürfen. Für Kinder selber ist das oft auch gar kein Thema, würden wir nicht eins daraus machen. Dem Jungen fällt es vielleicht überhaupt nicht (negativ) auf, dass er der einzige Junge in der Ballettgruppe ist. Für Kinder spielt dann eher das Alter oder die Größe eine Rolle oder wer dieselben Interessen hat und ob in diesem Kurs auch noch Freundinnen und Freunde dabei sind.

Die Angst der Eltern spielt oft eine große Rolle. Mein Junge kommt mit Glitzernagelack in die Schule und wird dann ausgelacht.

Kinder probieren so viele Dinge aus und überraschen uns auch immer wieder mit spannenden Kombinationen und Assoziationen – weshalb lassen wir sie nicht einfach machen?.

Die Kinder haben unsere „Bewertungen“ glücklicherweise noch nicht im Kopf, sondern lernen sie erst durch uns bzw. durch das Umfeld. Für Kinder ist vielleicht ungewöhnlich, dass eine Frau ein Kopftuch trägt, aber sie denken, aha, sie trägt halt immer ein Kopftuch. Punkt. Sie sehen darin kein Problem. Es gehört ganz einfach zu dieser Person..

Das ist für mich auch ein großes Thema. Kinder kommen vorurteilsfrei auf die Welt. Es ist ihnen egal, welche Figur wir haben, welche Hautfarbe, welchen Schulabschluss. Da können wir eigentlich so viel von ihnen lernen.  Aber wir fangen schon vorgeburtlich an, sie zu prägen. Die Frage: was wird es denn? Ein Mädchen oder ein Junge? Und dann fängt die Bewertung schon an. Ach, es gibt schon drei Jungen, hoffentlich wird es diesmal ein Mädchen…

…genau. Und welches Bedürfnis hat ein Baby? Einfach Baby zu sein.

Wie Sie auch schon vorhin beschrieben haben, sind mit dem Beginn der außerfamiliären Betreuung weitere Menschen im Spiel, die die Kinder sozialisieren. Lehrer*innen, Erzieher*innen, Eltern, andere Kinder.

Was kann Kita und Schule tun? 

Mit der Medien- und Bücherauswahl kann man sehr viel bewirken. Gibt es dort Heldengeschichten mit Mädchen und Jungen? Es gibt mittlerweile wirklich tolle Literatur, auch mit unterschiedlichen Familienformen: alleinerziehend, Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien usw.

Wir machen es uns oft auch zu einfach. Wie teilt man die Kinder beispielsweise beim Turnen auf? Sind das immer Mädchen gegen Jungen? Es gibt so viele andere Kriterien, nach denen man aufteilen kann: nach Geburtsdatum, nach Wohnort, nach Haarfarbe. So zeigt man, es gibt nicht zwei Welten, diejenigen von Jungs und diejenigen von Mädchen. Es geht also darum, wie Zuschreibungen (das sind Mädchensachen, das sind Jungssachen) aufgelockert und vermieden werden können.

Zurück zur Kita, zum Kindergarten oder zur Schule heisst das: Kinder entwickeln bereits im Alter von 3 – 6 Jahren ein Verständnis für Geschlechtszugehörigkeiten, wie wir sie vorgeben oder vorleben. Da sind also wir gefragt: Gehören zur Puppenstube beispielsweise auch Rennautos und Bagger. Ziehen wir ein Kind von einem Spielzeug oder einer Aktivität weg, wenn es aus unserer Sicht „untypisch“ für sein Geschlecht ist – mit dem Kommentar, das sei nix für sie oder ihn? Welche Spielsachen bieten wir den Kindern an?

In der Schule kann man in Projektwochen so viel machen. Früher war es ja so, die Mädchen haben Handarbeit gemacht und die Jungen Werken. Es ist so wichtig, dass Kindern alle Möglichkeiten offen stehen. Darin sollen sie frei entscheiden können.

Wenn man keinen Zugang zu Spielsachen mit Konstruktionstechnik oder Legetechnik hat, wird man nicht entdecken, dass es einem Spaß macht. Wie soll man Ingenieurin werden, wenn man es nicht ausprobieren kann? Stellt man in der Schule den Kindern auch Berufe und Menschen aus diesen Berufen vor? Also lädt man eine Ingenieurin ein oder einen Pfleger, um einfach ganz praktisch zu zeigen: alles ist möglich.

Es kommt  nicht so sehr darauf an, welches Geschlecht hat die Lehrperson, sondern welches Bewusstsein, welche Haltung, welches Verständnis. Auch wenn die Kinder älter werden, geht das ja weiter. Die fleissigen Mädchen und die rebellischen Jungen, auch das sind Geschlechterzuschreibungen.

Wie reagieren Sie in ihrem persönlichen Umfeld auf Aussagen wie z.B. „das ist eben ein typischer Junge“?

Ich frage dann einfach nach, wie meinst du das jetzt genau? Wenn ein Junge aufgedreht ist und viel toben will und alle sagen, „typisch Junge“, so hat das wohl auch mit einer gewissen Erwartung zu tun, wie ein Junge sein soll. Oder ich rechtfertige oder interpretierte sein Verhalten aufgrund seines Geschlechts. Ist es nicht viel eher ein Merkmal von Kindern? Und wenn das Mädchen dann auch noch Lackschuhe anhat und nicht schmutzig werden soll, wird vielleicht auch klar, warum sie nicht rennt oder herumtobt.

Wir sagen dann, „sie ist so ein richtiges Mädchen“. Und das Verrückte ist, wir haben dazu beigetragen, dass es so ist.

Ich habe manchmal fast das Gefühl, wir entwickeln uns wieder zurück. Es gibt so wenig Verlässliches in unserer Gesellschaft, dass wenigstens dies verlässlich sein soll. Der kleine Junge bekommt dann die Haare gestylt und das Mädchen, dass noch nicht als dieses erkennbar ist, einen Schleifenhaareif auf den Kopf gesetzt. Die Geschenke sind ganz klar deklariert, das Bagger-Buch für den Jungen und das Frozen-Prinzessinen-Buch für das Mädchen.

Ja, auch jetzt zu Weihnachten. Man geht in den Spielzeugladen und wird als erstes gefragt, ist es ein Mädchen oder Junge? Was spielt das für eine Rolle?

Lego hat vor einiger Zeit die Astronautinnen Sally Ride und Mae Jemision rausgebracht,die ins Weltall fliegen. Erfreulicherweise ist mit Mae Jemision auch eine schwarze Frau dabei. Wir müssen als Konsument*innen Druck machen auf diesen „gegenderten“ Spielzeugmarkt und Handel. Aber letztendlich liegt es an uns bewusst einzukaufen. Sonst kaufen wir ja auch bewusst ein, schauen auf Nachhaltigkeit und Bio und auf saionales Gemüses usw.

Wir können da etwas strenger mit uns sein: was wollen wir unseren Kindern mitgeben? Ist die Botschaft von Prinzessin Lillyfee das, was uns wichtig ist? Nämlich dass sie für ihren Ball kein passendes Kleid findet? Es gibt einige gute Angebote und wir müssen sie sehen, sie werden uns leider nicht unbedingt im Schaufenster präsentiert.

Wir müssen selbst aktiv sein, und dort unsere Bequemlichkeit ablegen. Es gibt ja wirklich schon so viel gutes Material. Ich finde, es auch so wichtig im Team immer wieder zu bemerken, wenn wir selbst in dieses Denken und in diese Rollenklischees fallen. Da dürfen wir noch mehr in einen konstruktiven Dialog kommen.

Und wir können auch mit den Kindern in den Dialog treten. Also nachfragen, warum ist das deine Lieblingsfarbe? Was magst du daran?

Ein spannender Aspekt ist übrigens auch noch: Eine zweite Studie aus dem NFP 60 «Gleichstellung der Geschlechter» hat gezeigt, dass Jugendliche, die einen geschlechtsuntypischen Beruf gewählt haben, überdurchschnittlich sozial-kompetente Menschen sind. Oft werden sie aber einfach belächelt: „Ah, er wird jetzt Erzieher oder sie ist Elektrikerin.“. Dabei beweisen genau sie Mut, Individualität, Selbstbewusstsein. Und das sind doch genau Kompetenzen, die wir unseren Kindern mitgeben möchten.

Liebe Frau Derungs, vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Arbeit.

Anja Derungs leitet seit 5 Jahren die Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich und lebt mit ihren zwei kleinen Kindern und ihrem Partner in Zürich. Sie ist anerkannte Mediatorin SDM und hat einen Master of Advanced Studies in Ausbildungsmanagement.

Im realen Leben und auch hier auf dem Blog ist mein Konsens: ich möchte, dass Kinder wissen, dass sie ok sind so wie sie sind! Manchmal denke ich, oh je, es gibt noch so viel zu tun. Aber dann denke ich wieder, nein, es ist eigentlich ganz einfach. Jeder von uns kann auf jeden Fall im Kleinen etwas tun: Stereotypen nicht mehr bedienen, kritisch nachfragen und jedes Kind einfach Kind sein lassen. Im Anhang stelle ich euch einige Links zusammen, die uns dabei helfen können.

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Anregungen und Tipps für Literatur und Spielzeug mit vielfältigen Geschlechterrollen: Starke Charaktere in Büchern: Pippi Langstrumpf oder Hermine bei Harry Potter, Ronja Räubertochter, Momo.

Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich 

Der goldene Zaunpfahl Negativpreis für absurdes Gendermarketing

Pink stinks – Vielfalt ist Schönheit

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