Im Gespräch mit...

Der Malort – ein Ort für wirklich alle

2. November 2017

Das Malspiel, der Malort und Arno Stern sind schon lange auf meinem inneren Kinderwärts Radar. Und wer den Film Alphabet geschaut hat, hat Arno Stern und seinen Sohn auch schon kennen gelernt. Ich hab also viel davon gehört, gelesen und möchte nun aber noch tiefer in die Thematik eintauchen und unbedingt jemanden treffen, der mehr weiß als ich 😉 .

Ich habe mich also heute in den Zug gesetzt und besuche Susanne Löhnig in ihrem Malort und Atelier in Viersen. Ich betrete einen Ort, der jedes kreative Herz höher schlagen lässt… Susanne nennt es Mal-Ort-Werk, weil es einen Malort und einen Ort zum Werken gibt. Man spürt sofort, dass es hier nicht um Kunst im herkömmlichen Sinne, nicht um Leistung oder gar Druck geht.

Susanne ist ursprünglich Stadtplanerin und Diplom Ingenieurin. Als man ihr nach der Rückkehr aus der Babypause ihr neues Büro zeigte, spürte sie irgendwie „das isses es nicht, ich muss kreativ arbeiten“ und kehrte nicht in ihren Job zurück. Zuerst baute sie sich ein kleines Atelier auf und arbeitete kreativ mit Kindern. Sie merkte aber schnell, dass sie an Grenzen kam, wenn es um das (freie) Malen mit Kindern ging.

Kinderwärts: Wie war das damals als du gemerkt hast, du willst es irgendwie anders machen?

Susanne Löhnig: Ich habe mich gefragt, wie schaffe ich es, die Freude der Kinder beim Malen zu erhalten? Die Vorgaben aus den Kunsterzieherbüchern waren mir zu einengend, aber ganz ohne eine Struktur oder Regeln fühlte es sich auch nicht richtig an. Ich habe mich an den Computer gesetzt und gegoogelt und bin dabei auf Arno Stern gestoßen. Ich habe erst einen Satz gelesen und dann noch einen und noch einen. Ich habe es wirklich verschlungen, er fasste genau das in Worte, was ich bis dahin nur als Bauchgefühl hatte.

Für alle, die Arno Stern nicht kennen und noch nie etwas vom Malspiel oder Malort gehört haben, was ist das??

Es gibt zwei verschiedene Arten des Malens: die Natürliche und die Künstliche/ Künstlerische. Also, der Mensch hat irgendwann gesagt, das Malen muss unterrichtet werden, um es zu perfektionieren. Das Zeichnen wurde gelehrt, was von zeigen kommt. Man möchte anderen etwas vorzeigen können und dafür muss es möglichst gefallen, das heißt einem bestimmten Anspruch genügen. Diese Art des Malens ist also ergebnisorientiert und hat immer einen Adressaten.

Dies hat aber gar nichts mit der ursprünglichen Art des Malens, mit der natürlichen Spur des Menschen zu tun. Die hat Arno Stern eben entdeckt, weil er die Kinder einfach beim Malen beobachtet hat. Wenn man Kinder auf natürliche Art und Weise malen lässt, gleicht es einem Samenkorn, das man pflanzt und das einfach nur die Bestimmung in sich trägt zu wachsen und zu gedeihen. Das Kind malt also, um des Malens willen. Mit natürlich meine ich keine Vorgaben, keine Kommentare, keine Bewertungen. Ich nehme die Spur einfach nur wohlwollend wahr und dies merkt und spürt das Kind auch. Auf diese Weise entstehen anders geartete Bilder, weil das Kind im Spiel, ja im Flow ist und völlig selbstvergessen und zweckfrei aus sich heraus malt.

Im Spiel ist es mit dem ganzen Körper, der Seele und dem Geist involviert. Wenn Kinder zum Beispiel ein Auto malen und man schaut ihnen dabei zu, dann hat man den Eindruck, die sitzen gerade selbst in eben diesem Auto. Arno Stern sagt auch, es ist erlebnis- und nicht ergebnisorientiert.

Wie kam Arno Stern zu dieser „Entdeckung“?

Er hatte keinerlei Vorprägung oder Einengung erfahren. Er ist jüdischer Herkunft und musste in Kinderjahren (1933) schon nach Frankreich fliehen und später dann in die Schweiz und verbrachte dort seine Jugend in einem Arbeitslager. Er musste sich auf der Flucht immer wieder neu auf Situationen einlassen, immer wieder wahrnehmen, was ist und dies dann annehmen.

So konnte er auch völlig unvoreingenommen Kinderbilder betrachten und das Kind bei seinem Spiel ernst nehmen, ohne zu bewerten. Wenn sich heute Menschen mit sogenannter Kinderkunst beschäftigen, haben sie immer eine Vorprägung. Sie blicken psychologisch, therapeutisch, pädagogisch etc. darauf. Sie blicken mit dieser Brille darauf und können sich davon nicht freimachen, ordnen es in ihr bisher angeeignetes Wissen ein und sind somit schnell in einer Analyse und Bewertung gefangen.

Wie und wo hat er damit angefangen?

1946 bekam er die Anfrage, ob er Kinder in einem Kinderheim in Paris zwischen den Unterrichtsstunden beschäftigen könne. Es gab Bleistiftstummel und Zeitungsreste, dessen man sich bedienen konnte und dann hat er die Kinder einfach malen lassen. Die Kinder wollten die Blätter erweitern und haben sie zu diesem Zweck an die Wand gehangen und dort im Stehen gemalt. Es kamen immer mehr Kinder dazu, so dass die Tische ganz verbannt wurden und übrig blieb ein schmales Brett, auf dem die Farben und Pinsel lagen. Hocker und Leitern wurden benötigt, weil die Kinder die Blätter nach oben und unten erweitern wollten. Der erste Malortgedanke entstand also aus rein praktischen, funktionalen Erwägungen. Arno Stern inspirierte das so sehr, dass er 1952 seinen ersten Malort in Paris eröffnete, die ‚Academie du Jeudi’, die Donnerstagsakademie. Er gab ihnen auch da nichts vor, nahm ihre Spur bewusst wahr und ihr Malspiel vor allem ernst.

Durch diese Möglichkeit hatten die Kinder die Chance „einfach nur“ zu malen, zu spielen. Er beobachtete, dass sich die Spur dem Kind quasi aus ihrem Inneren aufdrängt und raus möchte, formuliert werden möchte, ein Wunsch nach Ausdruck über den Pinsel.

Dieses klassische Kinderbild, zum Beispiel das kleine Haus mit dem schiefen Schornstein und einem angesetzten Weg, kennen wir alle. Im Malort gibt es die Möglichkeit, diesen Weg weiter wachsen zu lassen, das heißt weitere Blätter an das erste hinzuzufügen und so dieses Abenteuer weiter erleben zu dürfen. Das ist für Kinder ein unglaublich tolles Gefühl von Glück und Zufriedenheit. Nach und nach kamen auch Erwachsene hinzu, weil sie die Vorzüge des natürlichen Malens erkannten und dies auch erleben und genießen wollten.

Arno Stern hat seitdem ja eigentlich nicht aufgehört zu forschen, bis zum heutigen Tage. Was genau hat er erforscht?

Er hat erforscht, was allen Bildern gemein ist und dabei die 70 Elemente der Formulation entdeckt: Das sind bildliche Elemente, die wie ein grammatikalisches Sprachsystem aufgebaut sind, die immer wieder kehren. Diese sind in allen Kinderbildern zu finden. Er hat die Welt bereist und die Kinder malen lassen, Kinder die nicht zivilisiert aufwuchsen, Menschen, die noch nie ein Bild gesehen oder einen Pinsel in der Hand gehalten haben. Er ist zu dem verblüffenden Ergebnis gekommen, dass sie sich alle derselben 70 Elemente bedienen.

Es beschreibt es als eine Ursprache, die in uns verankert ist. Das heißt, indem wir malen, treten wir in Verbindung mit dem, was in uns ist und was uns ausmacht. In der Kunst ist mehr oder weniger der Kopf mit involviert, beim Malspiel entsteht eine direkte Verbindung aus dem Bauch, dem Innern über die Hand in den Pinsel, ohne über das ‚Wie’ der eigenen Spur nachzudenken. Deswegen ist übrigens auch die Pinselhaltung so wichtig.

Und dann malt man, was in unseren frühembryonalen Erinnerungen gespeichert ist. Der Mensch trägt schon im Mutterleib Bilder in sich, auch wenn das Auge als Organ noch gar nicht ausgebildet ist. Im Malspiel treten wir mit uns selbst in Verbindung. Wir nehmen den jetzigen Zeitpunkt und verbinden uns mit unserem Ursprung und dadurch kommt wiederum ein Kreislauf ins Fließen. Mit sich selbst in Verbindung zu gehen ist ein unglaublich heilsamer Prozess. Trotzdem haben viele Menschen davor auch Angst.

Ja, das glaube ich, mit mit sich selber zu beschäftigen ist nicht so populär in unserer Gesellschaft.

Es ist aber zu hundert Prozent positiv. Im Malspiel kommen keine negativen ungeahnten Dinge zum Vorschein, keine negativen Erlebnissen meiner Kindheit o.ä. Ich verbinde mich „nur“ mit meinem tiefen Inneren und trete in den geschützten und so vertrauten Kreislauf ein, den ich, meistens schon sehr früh, als kleiner Erdenbürger verlassen musste.

Jeder Mensch trägt einen ganz tiefen Wunsch nach individuellen, einzigartigen Ausdruck in sich, den wir nur bei uns selbst finden können. Es gibt ja auch viele, die leidenschaftlich gerne Musik machen oder tanzen und sich so mit sich selbst verbinden. Arno Stern geht jedoch davon aus, dass keine Verbindung so unerschöpflich ist wie beim Malen ist, weil ich dort unendliche Dimensionen ausleben und aus ihnen schöpfen kann, die beim Tanzen, Singen oder Töpfern zum Beispiel begrenzt sind.

Es gibt einen Mann im Pariser Malort, der seit dem ersten Tag dort, also seit über 40 Jahren an ein und demselben Bild malt. Es ist 5-6 Bilder hoch, mehrere Hundert Meter lang und wächst immer noch weiter, als ein Beispiel wie unerschöpflich das Malspiel sein kann.

Fällt es den Menschen erstmal schwer im Malort zu malen?

Den Verstand auszuschalten ist mit das Schwerste, was Menschen im Malort versuchen, zu überwinden.

Für Schulkinder ist es extrem schwer, weil die Schule einfach so wahnsinnig viel Raum einnimmt und sehr stark gegensteuert und weil da im Grunde das komplette Gegenteil gelebt wird: Vorgaben, Bewertung, Vergleich, Leistung, Funktionieren. Je nachdem wie das Elternhaus die Kinder prägt, ist es auch schon ab dem Kindergartenalter schwer, sich frei und selbstbestimmt zu entfalten. Das freie Spiel hat leider keinen hohen Stellenwert. Viele Menschen sind einfach gerne Teil dieser Leistungs- und Konsumwelt und stolz darauf.

Die Kinder wissen dann auch einfach nicht, dass es noch etwas anderes gibt, als einfach nur zu funktionieren und Aufgaben zu erfüllen, mit der Masse mit zu schwimmen und es anderen Recht zu machen.

Wie läuft das genau ab? Man steht vor dem Bild und malt einfach drauf los? Es geht ja eben nicht darum, vorher zu planen, ich möchte heute gerne diesen schönen Herbstbaum malen.

Für die meisten Menschen lässt sich das eben nicht so per Knopfdruck umsetzen. Ein ganz wichtiger Aspekt ist, das Malspiel regelmäßig zu besuchen. Einmal die Woche für 90 Minuten und dies über einen längeren Zeitraum. Bei dem Einen geht es schneller, bei den Anderen dauert es länger, sich von Ansprüchen aus der Aussenwelt frei zu machen, um ganz bei sich zu sein. Das Malen ist wie ein Fingerabdruck, es ist individuell und einzigartig. Über unseren Fingerabdruck sagen wir auch nicht: Oh, der ist aber besonders schön oder hässlich oder toll gelungen. Er ist einfach so wie er ist. Wie auch immer die Spur, die ich male, aussieht, es ist meine, die gibt es nur einmal auf der Welt, sowie meinen Fingerabdruck eben auch. Man darf es einfach so stehen lassen. Das bin ich.

Gelernt haben wir aber, uns regelmäßig in Frage zu stellen und sehr hohe Ansprüche an uns zu stellen. Was wir erschaffen, bewerten wir mit: Oh, das ist aber hässlich, das geht aber besser, da muss ich aber hier noch was ausbessern und da noch… Ständig hinterfragen wir uns und sind dabei selbst unser größter Kritiker.

Es gibt auch Menschen, die können das hier bei mir im Malort von Anfang an genießen, dass sie nichts leisten oder können müssen. Das Malspiel ist komplett talentfrei. Jeder kann es, jeder ist qualifiziert.

Auf der anderen Seite, also auf der des Malspieldienenden, so nennt sich meine Rolle im Malspiel, ist es auch total befreiend, nicht bewerten zu müssen. Und so geht es vielen Kolleg*innen, darunter sind auch Lehrer*innen und Therapeut*innen, wir erleben es wie einen Befreiungsschlag, dass wir das nicht mehr tun müssen.

Ich weiß auch zum Beispiel aus der Erzieher*innenausbildung, dass immer noch diese Sichtweise unterrichtet wird, dass dunkle/schwarze Bilder bei Kindern hinsehenswert sind und sie ein Signal senden. Schließt du das komplett aus?

Ich glaube ein Kind sendet nicht bewusst einen Notruf, das Malen geschieht intuitiv. Was dann damit passiert, ist das, was in den Köpfen der Erwachsenen stattfindet. Es gibt viele Erwachsene, die denken, dass man Kinderbilder deuten kann. Sie vergessen dabei oft oder sie wissen es nicht, dass für Kinder malen erstmal „nur“ spielen ist.

Ich denke, dass Bilder sicherlich ein Spiegelbild meiner persönlichen Erlebnisse sind und als solches eine Art Ventil sein können, aber wie gesagt unbewusst und zweckfrei. Wenn man anfängt diese zu analysieren, ist man wieder in der Bewertungsschleife und die heilsame Wirkung des Malspiels ist kaputt. Arno Stern sagt dazu: „Wer das Malspiel regelmäßig besucht, bedarf keiner Therapie, es ist therapievorbeugend.“ Ich komme aber nicht aus dem therapeutischen Bereich und habe dort keine Erfahrung, deswegen möchte ich an dieser Stelle nicht irgendetwas behaupten.

Aber ich weiß, dass Kinder beispielsweise den Wunsch haben, eine Farbe auszuleben. Und wenn es schwarz ist, ist es schwarz. Und vielleicht malt ein Kind drei Wochen schwarze Bilder und dann sollte man es lassen, ohne mit ihm zum Psychiater rennen zu müssen. Wenn man hier die Formulation im Hinterkopf hat, fällt es in den Bereich der Wiederholung, das heißt, Kinder lieben es, Dinge die sie malen oder eben auch eine einzige Farbe zu wiederholen.

Wiederholung ist also ein ganz wichtiger Lernprozess. Es sagt nichts anderes aus, als dass was ich schon kann, lass ich über einen gewissen Zeitraum ausreifen. Indem ich es wiederhole, sage ich mir immer wieder: Ich kann das! Das ist eine Selbstbestätigung und die stärkt ungemein.

Ich hatte mal ein Kind bei mir im Malort, das hat bis zu 30 Bilder gemalt, die komplett rot waren. Und zwar hintereinander und es hat sich total daran erfreut. Auch nach dem 20. Bild ist es mit großer Freude in das 21. Bild mit derselben Farbe getaucht.

Was ich dann tue? Ich nehme wohlwollend wahr, dass das Kind eine große Freude an dieser Farbe hat. So trete in eine respektvolle und wertschätzende Verbindung mit dem Kind und gebe ihm Raum zu wachsen. Ich analysiere nicht, bewerte nicht, sorge mich nicht, nehme nicht Einfluss auf die Auswahl einer anderen Farbe. Und dann kann ich mich mit dem Kind freuen und es einfach lassen.

Ich glaube, da ist viel Unwissenheit und auch Angst…

Ja, das ist es. In unserer Gesellschaft läuft sehr viel über den Motor Angst. „Oh je, mein Kind malt nur schwarz oder 30 rote/ blutige Bilder“. Und wenn das Kind bei der Einschulung noch kein Männchen mit den richtigen Proportionen malen kann, dann stimmt da was nicht und es muss im schlimmsten Fall in eine Therapie: Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie, Psychotherapie, Kunsttherapie … Das Angebot heutzutage ist riesengroß.

Anstatt jedes Kind als Individuum zu betrachten und wahrzunehmen, dass es seine unterschiedlichen Fertigkeiten auch zu unterschiedlichen Zeiten entwickelt. Nämlich immer dann, wenn es für das Kind gerade von Bedeutung ist, das heißt wenn es wichtig ist und Emotionen involviert sind.

Viele denken, es ist alles sehr frei, aber es gibt auch einige Regeln und Rahmenbedingungen im Malort.

Die Regeln sind im Malort sehr wichtig. Bevor ich über Arno Stern las, verspürte ich zwar den Wunsch nach freiem Malen, aber es erschien mir mit den Kindern in meinen Kursen so strukturlos. Im Malspiel erlebte ich dann sehr viele Rahmenbedingungen, wie die Wichtigkeit des geschützten Raumes und auch Regeln, dass zum Beispiel niemals über den Inhalt der Bilder gesprochen wird. Es waren die entscheidenden Puzzleteile, die mir für meine Arbeit noch fehlten.

Zentral bedeutsam für das Malspiel sind die Rituale: den Kittel anziehen, die Entnahme eines Blattes, das intuitive Finden eines für den Tag geeigneten Malplatzes im Raum, das Befestigen des Blattes gemeinsam mit der dienenden Person, das spontane Nehmen eines Pinsels, das Eintauchen zunächst in das Wasser und dann in die Farbe, das behutsame und konzentrierte Führen des Pinsels beim Malen. Das Wechselspiel zwischen meinem Blatt an der Wand und dem Palettentisch, wo ich meinen Mitmalenden begegne. Es ist immer wieder anders, immer wieder neu und doch sehr vertraut. Der Malort ist ein selbsterklärender Ort, es bedarf wenig Worte, um das Spiel spielen zu können.

Was ist mit Kindern denen es, aufgrund ihres Hintergrundes, sehr schwer fällt sich an Regeln zu halten? Oder die sehr stark nach Lob verlangen? Oder was ist mit Kindern, die massiv Grenzen überschreiten, die wenig gute Bindungs- und Beziehungserfahrungen gemacht haben, diese Kinder liegen mir ja besonders am Herzen. Und in Schule, Kita und ja insgesamt in unserer Gesellschaft werden sie meist ausgegrenzt. Ist der Malort ein Ort für alle?

Die Grundhaltung ist: jeder kann das und deswegen ist auch jeder willkommen und ich nehme jeden ernst und jeder ist hier gleich viel wert. Im Malspiel sind wir alle gleich und ich begegne wirklich jedem Menschen mit der gleichen Wertschätzung.

Es ist ein wichtiger Grundsatz, dass die Gruppe so gemischt wie möglich ist und es sind max. 12-15 Menschen in einer Gruppe. Das heißt also Jungen, Mädchen, Männer, Frauen, jung, alt, mit ohne Sehhilfe, Gehhilfe oder sonstiger Beeinträchtigung … unterschiedlicher Herkunft … Je gemischter, umso besser! Der Malort soll im Idealfall, ein Abbild unserer Gesellschaft sein.

Es ist ein elementares Gefühl von Annahme und Wohlbefinden, wenn ich spüre, dass meine Spur einzigartig ist und ich gleichzeitig spüre, ich bin Teil einer Gruppe. Ein Teil, ein wichtiger, ein einzigartiger Teil, aber jeder andere ist es auch und der Andere ist genauso einzigartig. Das kann man nonverbal wunderbar vermitteln und genau das tut der Malort. Man muss sich dort eben nicht vergleichen oder fremden oder eigenen Ansprüchen entsprechen. Wenn ein Kind neben einem Erwachsenen steht, hilft das, denn sie vergleichen sich nicht und geraten nicht in ein Konkurrenzdenken.

Im Malort kommt man schnell zur Ruhe und wird geerdet. All das tut sowohl lebhaften Kindern sehr gut, weil die klare, feste Struktur und auch der geschlossene Raum dazu dienen, dass sie ruhiger werden. Aber auch sehr ruhige Kinder werden selbstbewusster und mutiger mit der Zeit und trauen sich mehr.

Nur gleichaltrige Kinder in einer Gruppe ist also eher schwierig, beispielsweise in einer Kita?

Es ist kein komplettes K.O. Kriterium, es hat einfach nicht die gleiche Qualität. Bevor man das Malspiel gar nicht anbietet, würde ich immer sagen, macht es zur Not mit gleichaltrigen Kindern, denn es ist trotzdem sehr bereichernd für die Kinder, mit dieser Möglichkeit des Spielens ohne Bewertung groß zu werden und zu erleben.

Sicherlich ist es so, dass die Wahrscheinlichkeit des Vergleichens untereinander in einer Kita oder Schule höher ist, es fehlt dort einfach die Mischung. Die Kinder erleben aber dennoch die wunderbaren Qualitäten des Malorts: diesen verlässlicher Ort. Sie genießen die Rituale, die ja genauer betrachtet wie ein Spiel selbst sind.

Diese Regeln könnte man auch als dogmatisch ansehen und irgendwie gibt es ja doch wieder Dinge, die ich falsch machen kann, oder?

All diese Rahmenbedingungen sind Hilfestellungen und dienen mir. Sie sind keine Einschränkung, sondern Ermöglichungen. Es geht nicht um starre Regeln, die man einhalten muss. Innerhalb dieses Rahmens, dieser Struktur kann ich mich frei entfalten.

Die Regeln, die es gibt, dienen dazu, dass man sich ins Malspiel fallen lassen kann und dass man dabei nicht abgelenkt wird. Der geschlossene Raum hilft dabei, ganz bei mir sein zu können. Und in dem Moment, wo ich zum Palettentisch gehe, trete ich in Kontakt mit der Gruppe und dieses Wechselspiel ist sehr beruhigend.

Man muss sehen, dass sind alles Erfahrungen und Erkenntnisse, die Arno Stern über 70 Jahre zusammen getragen und erforscht hat, um es dann Stück für Stück in einem eigens dafür kreierten Raum umzusetzen. Es ist alles mit vielen guten Gedanken und Herz bedacht zum Wohle des Menschen. Er hat heute weit über 500 000 Bilder archiviert und er betont, dass es kein einziges Bild gibt, was diesen Erkenntnissen widerspricht. Und ich habe es ja für mich auch getestet und ausprobiert und es macht für mich alles so viel Sinn, es ist logisch, schlüssig, natürlich und dabei so einfach.

Ich kenne auch die Stimmen, die das dogmatisch finden, aber wenn man sich darauf einlässt und es testet, wird man verstehen und spüren, warum es so ist und auch nur so sein kann. Manche Menschen sind aber einfach so fest gefahren im Kopf, denen gelingt das nicht. Sie benötigen etwas Mut, loszulassen und sich einfach mal einzulassen. Das fällt schwer, weil wir das so nicht kennen und so nicht erzogen wurden.

Liebe Susanne, vielen Dank für deine Zeit und den Einblick in deine Arbeit. Abschließend kann ich sagen, es hat mich erneut sehr inspiriert und ich wünsche mir, dass sich viele kleine Malorte in unserer Gesellschaft etablieren und vor allem die Haltung, die dort herrscht. 
Ich finde dieses Bild der gemischten Gruppe ganz wunderbar. Es gibt noch so wenige Orte, wo sich jung und alt, arm und reich, verschiedene Kulturen, mischen. Und die Vorstellung, dass an solchen Orten herausfordernde Kinder, Kinder die es nicht leicht in ihrem Leben und ihrem Umfeld haben, ganz andere Erfahrungen machen könn(t)en, berührt mich sehr.
Ich glaube, der Malort ist ein Ort, an dem man nicht kinderwärts unterwegs ist, man ist dort schon angekommen.

Hier findet ihr Susannes Malort. 

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2 Comments

  • Reply Katja 4. November 2017 at 4:01

    Vielen vielen Dank für dieses unheimlich tolle und super spannendeInzerview. Jetzt bin ich total inspiriert und möchte am liebsten auch einen Malort haben!
    Vielen Dank!

  • Reply Petra 15. Januar 2018 at 6:31

    Liebe Anna, ein schöner Bericht. Ich war gerade im November in Mauerbach bei Wien auf dem 1. Kongress zur Ökologie der Kindheit. Dort durfte ich Arno Stern selber erleben. Sein Vortrag war inspirierend. Ich hoffe auf viele Orte an denen eine neuer Umgang zwischen kleinen und großen Menschen möglich wird.

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