Held*innen

Das Leben meistern – mit Kopf, Herz und Hand

1. September 2017

Johann Heinrich Pestalozzi  (1746 – 1827)

Man sagt, er sei international der bekannteste deutschsprachige Pädagoge! Ja, klar, gehört hat man schon von ihm, aber wofür steht er nochmal genau und was ist sein Vermächtnis, das er der (pädagogischen) Welt hinterlassen hat? Und was davon ist für unser heutiges Bildungssystem noch relevant oder sogar nachahmenswert?

Wenn ihr euch für die biografischen Eckpunkte seines Lebens interessiert, dann schaut hier auf der Seite der Kolleg*innen von Erziehungswissen vorbei, die haben sich näher damit beschäftigt und haben einen ersten Teil geschrieben.

Pestalozzi hatte ein bewegtes Leben und war nicht nur mit Herzblut Pädagoge sondern auch Philosoph. Ich schramme also in diesem Beitrag gefühlt nur an der Oberfläche seines Wirkens vorbei und picke mir einige Rosinen raus, denn er hat sehr viele Schriften und Werke veröffentlicht. Aber selbst dieser kleine Einblick hat es schon in sich.

Bildung für alle

Das war ihm total wichtig. Bildung wirklich für alle: Menschen aus armen Schichten, verschiedenen Geschlechts, egal welcher Religion oder Nationalität angehörend. Für alle sollte Bildung zugänglich sein und nicht nur das, nein, sie sollten auch ZUSAMMEN lernen.

Übrigens etwas, was uns verloren geht. Vor allem in Großstädten sind die Schulen nicht mehr sehr durchmischt, weil die Stadteile meist nicht mehr durchmischt sind. Klar, beide Geschlechter sind noch vorhanden, aber soziale Schichten mischen sich meist nicht mehr in der Schule. In Zeiten von Privatschulen noch weniger.

Was ich an Pestalozzi so toll finde und was nochmal mehr an Bedeutung gewinnt, wenn ich das Gespräch mit Herbert Renz-Polster im Gedächtnis habe: ihm war die Ausbildung von sozialen Fähigkeiten enorm wichtig.

Pestalozzi ging es dabei nicht nur darum, soziale Verantwortung zu lehren, die bis heute einen sehr großen Schwerpunkt in unserer Gesellschaft einnimmt (darüber habe ich hier ausführlich geschrieben). Er wollte Kindern auch vermitteln, Verantwortung für sich selbst und ihr Leben und Handeln zu übernehmen. Ein unüberschätzbarer Wert.

Unser Bildungssystem heute bildet Kinder für den Beruf und den Erfolg aus. FÖRDERUNG schallt es von überall. Nein, nicht nur in der Schule, es soll schon in der Krippe und Kita losgehen, Frühenglisch, Mathe, Chemie, … Schauen wir uns zum Beispiel „Das Haus der kleinen Forscher“ (ein Projekt in Berlin) an, es klingt so schön – wird aber übrigens gefördert von u.a. Siemens & Telekom: „Die gemeinnützige Stiftung „Haus der kleinen Forscher“ engagiert sich für gute frühe Bildung in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – mit dem Ziel, Mädchen und Jungen stark für die Zukunft zu machen und zu nachhaltigem Handeln zu befähigen.“

 

Versteht mich nicht falsch, ich will das jetzt nicht komplett verurteilen, aber solche Projekte zeigen sehr gut, wie absurd sich unser Bildungsanspruch entwickelt hat. Wir wollen frühe Bildung, nicht nur das, frühe Bildung in Mathe, Informatik und Technik…!! Da läuft einfach etwas verkehrt, diese Dinge lernen kleine Kinder draußen. Das Wühlen in Sand, Matsch, Wasser liebt jedes kleine Kind. Es wird dabei grobe Kraft, Feinmotorik und die Einbindung aller Sinne geübt. Es wird hier schon ein naturwissenschaftliches und physikalisches Verständnis intuitiv trainiert. ¹

Ich bin irgendwie vom Thema abgeschweift… Und rege mich mal wieder auf … 😉 Warum? Weil hier Siemens & Co Nachwuchs fördern und akquirieren möchten, was an sich überhaupt nicht verwerflich ist. Aber es ist in unserer Gesellschaft ein wahnsinniger Druck entstanden. Kinder sollen früh, sehr früh, in diesem Fall für einen wirtschaftlichen Zweck gefördert und gebildet werden, damit sie auch ja nichts verpassen. Dabei vergessen wir sie auf das Leben vorzubereiten und das scheint doch am Ende wichtiger als der Erfolg im Job zu sein! ²

Das Leben meistern

Pestalozzi hatte eben nicht nur die Förderung und kognitive Bildung im Visier, sondern eine Schule, die auf das Leben vorbereiten sollte. Wie stellte er das an? Er konzipierte einen ganzheitlichen Unterricht. Dabei ging es um den Kopf, das Herz und die Hand. Lernen mit allen Sinnen – mit Verstand, Gemüt und Körper.

Der Mensch wird zum Menschen, indem er sein Herz, seine handwerklichen Fähigkeiten und seinen Geist bildet.“ Pestalozzi

Der Kopf

Ein Unterricht, der sehr kopflastig ist, ist uns allen sehr bekannt, zu 90% funktionierte Schule immer in Form von Frontalunterricht. Dieser Form der Vermittlung von Lerninhalten war für Pestalozzi unzureichend. Er etablierte (abgeschaut von Rousseau) Gruppenarbeit und eigenverantwortliches für-sich-Lernen.

Für manche Kinder ist ein „kopf-mäßiges-Lernen“ total richtig und wichtig. Wir haben sie alle vor Augen, die Leseratten, die in jeder Pause hinter einem Buch oder in der Bibliothek zu finden sind. Sie lernen mit Buchstaben und Wörtern und lieben es, sie saugen alles auf, was man ihnen an Futter für ihren kleinen großen Kopf anbietet.

Ja, manche Kinder sind so und lernen so.

Doch, was ist mit den anderen Kindern? Den körperlich aktiven Kindern, die am Liebsten ständig in Bewegung sind? Die mich jede Pause anbetteln, dass ich ihnen die Sporthalle aufschließe, die sofort draußen sind, sobald es klingelt.

Und was ist mit den kreativen Kinder, die am Liebsten ständig malen, basteln und kleben? Die mit mir die Maltöpfe sortieren, denen ich ein Leuchten ins Gesicht zaubere, weil ich Glitzerpapier mitbringe und die stundenlang Pinsel auswaschen und dabei bunte Regenbogenbilder ins Waschbecken malen.

Sie kommen in unserem Bildungssystem nicht wirklich zum Zuge.

Also alles zu kopflastig?

„Aussagekräftig beim Urteil über die Kopflastigkeit der Schule ist die Befindlichkeit einzelner Schüler*innen. Darin liegt wohl die fast revolutionäre Ausrichtung der heutigen Schule, dass nicht alle Lernenden dasselbe Lernziel erreichen müssen. Die Schule wird so gesehen ihrem Auftrag gerecht, jeden Lernenden mit seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu fördern. Nur dort kann die Schule zu kopflastig werden, wenn sie von allen die gleiche Denkleistung abverlangt. …

Aber die Erwartungen der Eltern, der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Politik sind anders. Es wird gefordert, dass Lernende Schulabgangszeugnisse mit guten Noten- und gleich hohen (Denk-) Leistungsbewertungen ausweisen können.“  Madeleine Bacher ³  Was hier beschrieben wird, wird meiner Meinung nach der Knackpunkt unseres Schulsystems der Zukunft sein: Jedes Kind nach seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu fördern und Leistungsbewertung dabei komplett außen vor zu lassen.

Vorbilder

„Kinder lehrten Kinder, Kinder lernten gerne von Kindern, und vorgerückte Kinder zeigten minder vorgerückten Kindern gerne und gut, was sie mehr wussten und besser konnten als sie.“ Pestalozzi

Pestalozzi war klar, dass Kinder am Besten von anderen Kindern lernen und schuf Raum für diese Form. Vorbilder finden Kinder vor allem untereinander und dieser Fakt sollte uns vielmehr dazu führen, dass Kinder jeglicher Herkunft zusammen unterrichtet werden sollten.

Das Herz

Pestalozzi ging es um eine Herzensbildung und um Menschlichkeit.

Dabei ging es ihm auch darum, dass alles, was man tue, mit dem Herzen tue. Er machte seinen Job als Lehrer von Herzen gern. Und es stimmt… Menschen, die lieben was sie tun, berühren uns und unser Herz mehr, als jemand, der einfach stumpf seinen Job tut, weil „muss ja“.

Ihr müßt die Menschen lieben, wenn ihr sie verändern wollt. Pestalozzi

Kinder und Jugendliche brauchen Menschen, die sie begleiten. Sie brauchen Menschen, die sich nicht hinter einer Lehrer*innen-Rolle verschanzen, sondern die sie in ihrer Entwicklung sehen und ihre Persönlichkeit prägen. Menschen, die sie wertschätzen, denen sie vertrauen können, mit denen sie sich streiten können, mit denen sie lachen können. Menschen, die sie lieben und die sie anerkennen.

Wir als Lehrer*innen, Erzieher*innen und Sozial*pädagoginnen schaffen einen sicheren Ort für die Kinder und bilden somit einen Rahmen, indem sie lernen können. Unsere Liebe, unsere Beziehungsbereitschaft, unsere Wertschätzung und Anerkennung, unser Angebot einer temporären Heimat bildet die Herzen der uns anvertrauten Kinder aus.

Ich brauche sie nicht daran zu erinnern, wie wichtig die Musik ist, weil sie die höchsten Gefühle, deren der Mensch fähig ist, zu erzeugen und zu unterstützen vermag. Pestalozzi

Musik berührt und bewegt JEDEN auf seine Weise. Es ist wohl der kleinste gemeinsame Nenner, den die Menschheit verbindet. Musik in der Schule ist oft sehr theoretisch, der Lehrplan sieht auch hier Beethoven & Co vor und vielleicht noch eine Triangel (zum Glück nicht überall, ich kenne einige tolle Lehrer*innen, meistens unterrichten sie Musik).

Räume für Musik sollten vor allem Räume sein, in denen (nicht theoretisch sondern ganz praktisch) musiziert wird. Gesungen, gesummt, getrommelt, geflötet,… Denn dass Musik gut tut, ist keine Neuigkeit…! Studien zeigen, dass Musik positives Sozialverhalten schulen. Durch die Musik wird die Fähigkeit für emotionale Erlebnisse und Beziehungsfähigkeit gefördert.

Die Hand

Ja, die Hand die so viel mehr kann, als schreiben und PC- und Smartphone-Tastaturen zu benutzen. Handarbeiten, nähen, sticken, flicken, töpfern, werkeln mit Holz und Textilien, gärtnern, ach es gibt so vieles, …

Dabei würde ich mir sooooo sehr wünschen, dass wir diese Fächer, die es ja zum Teil schon gibt, loslösen von unserem Notensystem (ok, wenn wir schonmal dabei wären, würde ich dann eh direkt ALLES loslösen vom Notensystem).

Malen und Zeichnen zum Beispiel ist etwas, das man nicht benoten und erst recht nicht bewerten kann. Jaja, das fängt schon früh an, „schneide entlang der Linie“, „mal nicht über die Linie“, „so sieht eine Wolke und so eine Blume aus“. Hören wir endlich auf mit diesem Mist und schaffen Räume für wirkliche Kreativität. Kreatives schaffen aus reiner Freude und ohne Bewertung lehrt Kinder viel mehr als ein Zeichentisch an dem sie lernen, wie sie ein Auge mit einer Nasenfalte richtig zeichnen.

Mehr Bewegung

Wir brauchen alle mehr Bewegung, unsere Gesellschaft verkommt zu einer Sitzgesellschaft. Und in der Schule fangen wir damit an. (Im Kindergarten auch, übrigens meist mit der Begründung, dass Kinder für die Schule lernen müssen, still zu sitzen).

Und auf dem Hof und in den Pausen müssen wir aufhören, alles zu verbieten. Ja, es geht mal etwas zu Bruch und ja, auf unsrem Schuldach lagen immer so 30-40 Fußbälle, aber wo sollen die Kinder sich denn bewegen, wenn nicht dort draußen? Wenn etwas kaputt geht oder sogar Verletzungen passieren, dann darf das nicht immer gleich zu Verboten führen!

Geht mit den Kindern raus. Spielt fangen, verstecken. Geht Schlitten fahren. Geht in den Wald und all dies ohne pädagogischen Auftrag. Einfach so. Macht und spielt mit als Erwachsener, auch so bauen wir Beziehungen auf und die Kinder werden es lieben!

Das Kind – eine Knospe

Ich gehe davon aus, dass Kinder alles mit auf die Welt bringen, was sie brauchen. Unser Job ist es, Entfaltungsmöglichkeiten zu schaffen. Pestalozzi sah das auch schon damals so und hatte ein schönes Bild für diese Haltung:

„Ein Kind ist ein mit allen Fähigkeiten der menschlichen Natur begabtes Wesen, bei dem aber noch keine dieser Fähigkeiten entwickelt ist: es ist wie eine noch nicht erschlossene Knospe. Wenn die Knospe aufspringt, entfaltet sich ein jedes Blatt, nicht eines bleibt zurück. Derart muss der Gang der Erziehung sein.“

Hmmm…

Pestalozzi war also meiner Meinung nach unglaublich fortschrittlich und kann uns wirklich Vorbild sein, wenn es um die Ganzheitlichkeit in Schule und Kita geht. Und auch seine Liebe und Einstellung zur Herzensbildung berühren mich und wollen mehr integriert werden, ach noch mehr: Sie sollten Basis werden all unseres pädagogischen Tuns.

Und jetzt ist es mal wieder soweit: die treue Leser*in dieses Blogs wird dieser Moment schon bekannt vorkommen. Ich fasse mir verzweifelt an den Kopf und frage mich, wie können diese guten und so logischen Gedanken vor 200 Jahren als gut befunden worden sein und heute sind wir (an sehr vielen Stellen) nicht so fortschrittlich…? Diese Gedanken kamen mir schon bei Lindgren, Montessori, Korczak, Pikler, Fröbel und nun auch bei Pestalozzi. Tja, wütend sein, bringt aber keinen weiter. „Sei du selbst die Veränderung, die dir wünschst“. Ich ermutige dich und mich, da wo es uns möglich ist, Kopf und Herz in die Hand zu nehmen und Dinge zu ändern und entsprechend zu gestalten. Ich wünsche dir alle Gute dafür!!


¹ Herbert Renz-Polster Der Natur auf der Spur

² Falls du Interesse hast, gibt es hier ein Interview von Renz-Polster, wo er die Thematik näher beleuchtet.

³  Sehr tolles Schulblatt mit Artikeln und Interviews rund um Pestalozzi

Studie zur Wirkung Musik z.B. das Hofer Modell, nachzulesen hier

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